Inhalt der aktuellen Ausgabe 02/2023
Inhalt
Aufsätze
Nur auf den ersten Blick zeigt sich die „Götterlehre“ von Karl Philipp Moritz als Schulbeispiel eines gräkophilen Klassizismus. Auf den zweiten lässt das Kapitel über die kleinasiatische Gottheit Kybele eine klassizistische Formkultur weit hinter sich. Moritz begreift stattdessen, im Kontext zeitgenössischer Philosophie und der eigenen Erfahrungsseelenkunde, die Phantasiewelt der griechischen Mythologie als Tor zu amorphen, rationaler Begrifflichkeit verschlossenen psychischen Tiefenschichten, in denen schließlich auch das Schöne selbst gründet.
Performativität, Aufführbarkeit und die Kunst des richtigen Vortrags sind gegen Ende des 18. Jahrhunderts zentrale Aspekte lyriktheoretischer Reflexionen. Dabei geht es vor allem um die Verortung des Gedichts zwischen Stimme und Text, zwischen vermeintlicher Unmittelbarkeit und medialen Effekten. Die Frage, inwiefern der Vortrag einen Text ‚beleben‘ kann, kommt besonders augenfällig in Gedichten zum Ausdruck, die den Gedichtvortrag selbst thematisieren und in Szene setzen. Solchen Gedichten widmet sich der Beitrag: In einer kontextualisierenden Analyse von August Wilhelm Schlegels Gedicht „An die Rhapsodinn“ (und einem Vergleich mit Klopstocks „Teone“) wird gezeigt, wie besonders Figuren der Adresse und der Apostrophe für die mediale und poetologische Selbstreflexion genutzt werden.
Mit großer Konsequenz, ja Hartnäckigkeit verfocht die Dichterin Helmina von Chézy ihre Position im literarischen Leben gegen Zuschreibungen, die sie als umstrittene Persönlichkeit erscheinen ließen. So auch im Falle der hier vorgestellten Deutungskontroverse um eine sie und George Sand betreffende Mitteilung Karl Gutzkows in den „Briefen aus Paris“ (1842). Die Einbettung dieser Streitsache in den Sammlungszusammenhang, in dem sie archiviert ist (Sammlung Varnhagen), erlaubt es, eine alternative Literaturgeschichte von Kontroversen jenseits der paradigmatischen Literaturstreite in den Blick zu nehmen, wobei die Verschränkung von Personen, Positionen und Publikationen, von Medien und Materialien im Vollzug solcher Auseinandersetzungen besonders berücksichtigt werden können.
Dieser Aufsatz untersucht erstmals Rilkes poetische Auseinandersetzung mit altägyptischer Weisheitsliteratur, einer Gattung, die Erfahrungswissen zur Lebensbewältigung anbietet. Rilkes Ägypten-Faszination ist bekannt, doch bislang vor allem im Bereich der bildenden Kunst untersucht worden, weshalb die Beschäftigung des Autors mit Ägyptologie und altägyptischen Quellentexten unterschätzt wurde. Die Rekonstruktion dieser Auseinandersetzung führt zur Neuinterpretation mehrerer Gedichte, insbesondere der zehnten „Duineser Elegie“. Dabei zeigt sich, dass Rilkes Poetik durch die Verarbeitung außereuropäischer Literaturen neue Möglichkeitsräume dichterischen Sprechens erschließt.
Kunst ist politisch, indem sie – so die These – ein „raum-zeitliches Sensorium“ (Rancière) herstellt, das alternative (ästhetische) Erfahrungen ermöglicht. Auch die Romane von Marlene Streeruwitz sind weniger durch die Thematisierung konkreter Politik geprägt als vielmehr durch eine Präsenz des Politischen, die sich durch eine dezidiert ästhetisch autonome Figurengestaltung auszeichnet, mittels derer Machtstrukturen kritisiert werden. Schreibt Rancière der Kunst die Aufgabe zu, die „Aufteilungen des Sinnlichen“ im Leben zu verändern, so geht es Streeruwitz um eine radikale Demokratisierung der Verhältnisse.
Das Residuum einer Verhältnisbestimmung von Selfpublishing und Social-Media-Praxis bildet den Hintergrund der in diesem Aufsatz gestellten Frage nach der Kontinuität zwischen beiden Formen des Selbstpublizierens in Rupi Kaurs Instapoesie. Die mit dem Begriff des ,Self(ie)-Publishings‘ adressierte Durchdringung und Ergänzung von Posting und Publishing in Kaurs Instapoesie erfordert es, wie die folgende Analyse zeigt, überlieferte Begriffe von Autorschaft, Werk und Publikum zu überdenken und das Selbstveröffentlichen als literarische Praxis zu begreifen. Posting und Publishing ebenso wie digitales und analoges Publizieren erscheinen dabei als Variationen eines hybriden Publikationsmodells.
Buchbesprechungen
Nichts Alltäglicheres gibt es als die Heimkehr, insbesondere in der ‚unbehausten‘ modernen Welt, die individuelle Mobilität, also den Wechsel zwischen lokalen An- und Abwesenheiten, privat wie beruflich ganz selbstverständlich gemacht hat. Dass die digitale Realität es immer öfter auch ermöglicht, das eigene Zuhause gar nicht mehr zu verlassen, steht auf einem anderen Blatt. Gleichzeitig gibt es aber kaum etwas, das so sehr an die Bedingungen der menschlichen Existenz heranrührt wie die Heimkehr mit ihrem impliziten Versprechen, wieder in den Herkunftsraum der eigenen Identität eintreten oder gar ‚zu sich selbst‘ finden zu können.
In der theaterwissenschaftlichen Forschung steht der Chor seit einigen Jahren als eine Instanz im Fokus, die über konkrete aufführungspraktische Fragestellungen hinaus auch ein Denkmodell zur Überwindung der Substanzphilosophie liefert. Vorreiterin der dergestalt informierten Chorforschung ist Ulrike Haß, die ihre bislang vornehmlich in Aufsatzform publizierten Forschungsergebnisse kürzlich mit einer Buchveröffentlichung gekrönt hat.
Carl Gelderloos’s “Biological Modernism” is a book that pushes boundaries. This is already evident in an offhand remark made in the introduction, where the author indicates his preference for the term “trans-” over “inter”-disciplinary. Recalling Leslie A. Adelson’s critique of betweenness, Gelderloos argues that the prefix “inter” actually separates what it purports to connect, such that the things connected remain unaffected by the fact of their inter(-)connection. What appears to be a methodological aside reflects the theoretical impetus of “Biological Modernism,” which problematizes the simple notion of boundaries and borders through four chapters focusing on four moments of Weimar culture: Helmut Plessner’s theory of the new human, the “comparative photography” of August Sanders and Karl Blossfeldt, Alfred Döblin’s “Berge Meere und Giganten,” and Ernst Jünger’s “Der Arbeiter.”
Mit dem Regiebuch nimmt Martin Schneider in dem von ihm herausgegebenen Sammelband einen faszinierenden und lange vernachlässigten Forschungsgegenstand in den Blick. In 18 Einzelstudien wird eine für die Theatergeschichte bislang nur marginal beachtete Quellensorte erschlossen, die jedoch für das Verständnis des institutionellen Gefüges des Theaters und vergleichbarer Produktionsstätten unverzichtbar ist. Im Gegensatz zu den Prätexten, auf denen ein Bühnengeschehen häufig beruht, ist das Regiebuch bestrebt, den Produktionsprozess zu dokumentieren und die Inszenierung schriftlich zu fixieren.
Form hat wieder Konjunktur. Sie wird seit einigen Jahren – analog zu Begriffen wie Autor:in, Philologie oder Interpretation – aufgewertet und kritisch neu vermessen. Goethe hat Anteil an dieser Wiederentdeckung, weil er aus den Aporien des Form-Begriffs führt. Das zeigt Rabea Kleymanns 2019 in Hamburg eingereichte Dissertation auf bestechende Weise. Dabei verändert sich freilich dieser Formbegriff, der keine ‚reinen‘ oder perfekten Formen mehr denkt, ohne deren Formwerdung ins Kalkül zu ziehen. Darauf weist der Obertitel der Arbeit mit dem Paradox der formlosen Form hin, das insbesondere in Goethes Spätwerk leitend wird, wo Kleymann eine Epistemik und Poetik des Aggregats entdeckt: Das Aggregat wird also zum Schlüssel für das Erkennen sowie für das Produzieren von Formen.
Unter Schillers Zeitgenossen war der Stil des Autors hochgradig umstritten. Auch in der Forschung hat man diesen Formaspekt immer wieder thematisiert, meist im Anschluss an die grundlegenden Beobachtungen von Elizabeth Wilkinson zu Sprache und Struktur der „Ästhetischen Briefe“ aus dem Jahr 1959. Die einzelnen Analysen ergänzten, erweiterten und präzisierten Wilkinsons Überlegungen und lenkten in diesem Zusammenhang oft den Fokus auf Schillers Streit mit Fichte, der sich an Schillers Ablehnung entzündete, Fichtes „Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie“ in den „Horen“ zu publizieren.
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