Inhalt der Ausgabe 04/2021
Inhalt
Aufsätze
In Gellerts Komödie „Das Loos in der Lotterie“ (1747) kreist die Handlung weniger um den im Titel des Stücks evozierten, gewinnbringenden Schein als vielmehr um die Glücksvorstellungen der zueinander in einer kontrastiven Symmetrie stehenden Hauptfiguren. Dabei spielt der Bezug auf die für die bürgerliche Ordnung konstitutive Dimension des materiellen Reichtums eine entscheidende Rolle. Die Disziplinierung der Leidenschaften und die Institutionalisierung der Gefühle durch die Ehe sind von den ökonomischen Strategien, die das Handeln der Kontrahenten prägen, nicht zu trennen. Vermögenserwerb und Besitzverwaltung erscheinen als eine Codierungsform des Begehrens, die ambivalente Haltung der Komödienfiguren gegenüber der Omnipräsenz geldbezogener Diskurse indiziert die Materialisierungsprozesse, die die Kultur der Aufklärung bestimmen.
Schillers „romantische Tragödie“ „Die Jungfrau von Orleans“ ist zutiefst affiziert von den Erwartungen und Effekten des Kalenders, als der sie zuerst erschienen ist. Die hier vorgeschlagene materialästhetische Perspektive auf ein zentrales Werk der deutschen Klassik offenbart, dass der Erscheinungsweise klassischer Texte als fest gebundene, haltbare, autorisierte, auf Nachruhm ausgerichtete Bücher in vielen Fällen eine Medienkonversion voraus liegt, die diese nachträglich gegen ihre Ausgangsformate, gegen die materialen Spuren merkantiler Produktions-, flüchtiger Erscheinungs- und zerstreuter Rezeptionsweisen, wie auch gegen die semantischen Spuren von Reizen und Rührungen immunisieren soll. Die Autopsie der Kalender-Jungfrau zeigt, dass das inhaltliche wie materiale Format des Kalenders, seine ‚Stofflichkeit‘, in der Werk-Form trotz der größten hermeneutischen Anstrengungen weiterspukt.
Thomas Mann war kein Kenner Schillers. Sein Essay „Schwere Stunde“ (1905) – anerkannt auch in der Schillerliteratur – behandelt sich selbst in der Umgebung des gefeierten Dichters. Die erhaltene Handschrift des Essays lässt Eigentümliches Thomas Manns erkennen: dass ihm das von ihm Geschriebene wichtiger war als das Beschriebene. Die Besonderheit der Handschrift lässt sich auch deuten, wenn sie graphologisch untersucht wird; und deutlicher wird das Besondere, wenn die Handschrift eines anderen Dichters (hier: die Kafkas) zum Vergleich herangezogen wird. Dieser Versuch ist im vorliegenden Beitrag geschehen.
Literarische Demenzdarstellungen eröffnen Assoziations- und Resonanzräume für das Nachdenken über Demenz und Sprache, Identität und Personsein. Ulrike Draesners Erzählungen „Ichs Heimweg macht alles alleine“ (2006) und „Ichs Heimweg macht alles allein“ (2011) sind aufgrund ihrer schon am Titel ablesbaren Ähnlichkeiten, aber vor allem aufgrund der merklichen Divergenzen gut geeignet, um exemplarisch vorzuführen, wie sich das Thema Demenz literarisch bearbeiten und wie sich diese Bearbeitung variieren lässt.
Der Aufsatz diskutiert die Rolle von Medien in literarischen Werken sowie im Produktionsprozess von Christoph Ransmayr, insbesondere die digitale Kartografie in „Der fliegende Berg“ und die teleskopische Beobachtung in „Atlas eines ängstlichen Mannes“. Der Aufsatz zeigt, dass es in Ransmayrs Texten wesentlich um die Frage geht, wie verschiedene Medien zur Erzeugung unterschiedlicher Weltbeziehungen beitragen. Dabei werden in den Texten selbstreflexiv-situierte und alteritätsorientierte Weltbeziehungen positiv kodiert.
Der folgende Aufsatz verleiht einem postkybernetischen Zeitempfinden Kontur, welches in den Texten von Judith Schalansky und Paul Auster als ein Jetzt der Zukunft beobachtbar wird, das Wahrnehmungsformen und Darstellungsweisen des Temporalen auslotet, die, so die Hypothese, eine Konstruktion des Wirklichen, welche das Mögliche vor sich hat, durch ein Denken im Möglichen ersetzen und damit historisch an kybernetische Zeitlichkeitskonzepte anschließen und diese weiterentwickeln.
Buchbesprechung
Auf dem Gebiet der Ästhetik waren im 19. Jahrhundert zwei konträre Lehren vorherrschend. Neben der populären, aus der akademischen Welt herausragenden idealistischen Ästhetik, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) maßgeblich prägte, entwickelte sich zu dieser im Gegensatz – tendenziell eher im habsburgischen Raum verortet und an der naturwissenschaftlichen Methodik orientiert – die auf Johann Friedrich Herbart (1776–1841) zurückgehende formale Ästhetik. In der umfangreichen Einleitung zu seiner Quellenedition „Texte der formalistischen Ästhetik“ weist der Herausgeber Ingo Stöckmann auf deren disziplinären Charakter hin.
Im Bereich der deutschsprachigen literaturwissenschaftlichen Aufklärungsforschung waren netzwerktheoretisch fundierte Vorstöße bislang hauptsächlich von den einflussreichen Thesen Mark Granovetters zur Stärke und Schwäche sozialer Verbindungen geprägt. Der Sammelband von Lore Knapp erweitert nun das Angebot an soziologischen Zugängen zu literarischen Netzwerken, indem er zwei erstmals übersetzte Aufsätze von Bruno Latour und Gisèle Sapiro präsentiert. Während die Wahl der Theorietexte signalisiert, dass hier Forschung jenseits „vom etablierten Kanon oder einer historiografischen Höhenkammästhetik“ zu erwarten ist, verdeutlicht ein breit angelegter Literaturbegriff gleich zu Beginn ein starkes Interesse an materiellen, medialen und praxeologischen Aspekten. Der Schwerpunkt des Bandes liegt klar auf der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT).
Der „Versuch eines Germanisten, globale Literaturgeschichte zu schreiben“ – mit diesen Worten umreißt der Autor das ambitionierte Unterfangen der vorliegenden Studie. Doch warum sollten sich aus der peripheren Perspektive des Nationalphilologen, der sich noch dazu mit der nicht gerade kosmopolitisch anmutenden Gattung der ‚Dorfgeschichte‘ befasst, neue Einsichten über internationale Phänomene wie Weltliteratur, Modernisierung und globale Zirkulation gewinnen lassen? Kann ein ‚germanozentrischer‘ Blick diesbezüglich etwas anderes sein als eine in ihrer Unangemessenheit noch gesteigerte Variante eines Eurozentrismus, der lokal begrenzte Phänomene als Universalien missdeutet?
Ein zentrales Merkmal der literarischen Produktion von Rainald Goetz ist die Zusammenstellung einzelner Publikationen zu Werkverbünden. Am Beispiel des Buchkomplexes „Heute Morgen“ untersucht Lena Hintze in ihrer als Monografie erschienenen Dissertation die Implikationen dieser Art der Werkgestaltung für die Lektüre der einzelnen Bände. Mit dem Titel „Werk ist Weltform“ verweist sie auf eine poetologische Reflexion aus Goetz’ „Abfall für alle“, derzufolge sich ein fertiges literarisches Werk nicht durch Abgeschlossenheit, sondern durch seine „Weltform“ auszeichne. Hintze geht davon aus, „dass kein Einzeltext aus einem Buchkomplex ohne die direkte Werkumgebung der anderen, ebenfalls dem Komplex zugehörigen Bände gelesen werden kann“.
Buchbesprechungen
„Wenn ein Autor behauptet, er habe im Rausch der Inspiration geschrieben, lügt er. Genie ist zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration“, schreibt Umberto Eco 1984 in seiner Nachschrift zum „Namen der Rose“. Dass dies im späten 19. Jahrhundert nicht anders war, zeigt Petra S. McGillen in ihrer Studie, die ihren Leser*innen weit mehr als nur einen Einblick in Theodor Fontanes Werkstatt bietet. Das Buch beginnt gleich doppelt mit einem bekannten, von Fontane selbst inszenierten Beispiel eines solchen Einblicks, den es dann im Folgenden programmatisch entlarvt und korrigiert.
In den Literatur- und Kulturwissenschaften lässt sich jüngst vor dem Hintergrund eines postulierten material turn eine Rückkehr des Materiellen sowie des Anorganischen beobachten. Nicht nur gewinnen Gesteine, Sedimente und Metalle für die Darstellung zeitlicher Größenordnungen an Prominenz; vielmehr wird auch die vermeintliche Grenze zwischen dem Organischen und dem Anorganischen über eine Neuverhandlungen des Lebendigen zur Disposition gestellt. Für den sogenannten „new vitalism“ spielt vor allem die Vorstellung einer generativen lebendigen Materie eine wesentliche Rolle. Doch wie kam es überhaupt zum Gegensatz zwischen Organischem und Anorganischem, der die Literatur und Ästhetik der Moderne so maßgeblich beeinflusst hat?
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