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Evelyn Scherabon Firchow (Hg.) unter Mitarbeit von Richard Louis Hotchkiss: Der Codex Vindobenensis 2681 aus dem bayerischen Kloster Wessobrunn um 1100.
Diplomatische Textausgabe der Wiener Notker Psalmen, Cantica, Wessobrunner Predigten und katechetischen Denkmäler. Mit Konkordanzen und Wortlisten auf einer CD

Der Codex Vindobonensis 2681, nach seinem Haupttext, einer Bearbeitung von Notkers Psalter, gewöhnlich ‚Wiener Notker‘ genannt, ist vielleicht unter den Handschriften, die um 1100 deutsche Texte überliefern, die merkwürdigste. Nach Ausweis einer alten, für jeden Band neu einsetzenden Lagenzählung handelt es sich um den Torso eines einstmals dreibändigen Werkes, dessen mittlerer Teil verloren ist und dessen erster und dritter Band zu Anfang des 16. Jahrhunderts in einem Band unter Beibehaltung der ursprünglichen Lagenzählung zusammengebunden wurden. Allerdings ist diese Handschrift keine „rein deutsche Handschrift“, wie ich selbst es allzu überschwänglich einmal gesagt habe, womit ich nun im Einleitungs-Motto der Herausgeberin (S. XI) zu einer zweifelhaften Ehre komme. Denn das Werk zitiert immerhin den Text der biblischen Cantica, des Vaterunsers, des apostolischen und des ps.-athanasianischen Symbolon ‚Quicumque‘ und vor allem den ganzen Text von Psalm 1–50 und 101– 150 auch in lateinischer Sprache. Dabei hat es mit dieser gewichtigen Präsenz des Psalter-Lateins in der Handschrift seine eigene Bewandtnis. Dazu später. Vor allem aber präsentiert die Handschrift neben dem verbliebenen Rest des Psalters und über diesen hinaus ein einmaliges Textensemble, das überlieferungstypologisch und für das literarische Leben deutscher Texte im Kontext des Lateins und der Frömmigkeitsgeschichte um 1100 ein ganz eigenartiger Spiegel ist. Zum einen: Der Text des Notkerschen Psalters erscheint mit seinen lateinischen und deutschen Bestandteilen hier in einer grundlegenden Umgestaltung. Zum andern: mit dem Psalter und dem zugehörigen Anhang (Cantica und katechetische Texte, s.o.) vergesellschaftet sind – bzw. waren nachweislich – etliche weitere, der Handschrift später zu großen Teilen entfremdete Texte – Steinmeyer sprach treffend vom „Wiener Notker und seiner Sippe“ – Texte, die sich locker dem Umfeld der Predigt zuordnen lassen, womit über den tatsächlichen Gebrauch der Handschrift aber noch nichts Bestimmtes gesagt ist. Es handelt sich mit diesen Texten, soweit sie erhalten sind, 1. um die Fragmente der drei „Predigtsammlungen“ A, B und C aus Wessobrunn, die als Predigtsammlungen aber wohl nicht durchweg zutreffend bezeichnet sind; 2. es handelt sich um,Wessobrunner Glaube und Beichte‘, ein Parallelstück zum später überlieferten ‚Bamberger Glauben und Beichte‘, und 3. um die Prosa der so genannten „Geistlichen Ratschläge“, vielleicht auch noch – aber das ist nicht strikt nachweisbar – 4. um das Stück ‚Himmel und Hölle‘, das mit ‚Bamberger Glaube und Beichte‘ andernorts vielleicht nicht zufällig gemeinsam überliefert ist. All diese und mit Sicherheit 5. noch weitere, heute verlorene Mittexte von z.T. beträchtlichem Umfang standen und stehen – das ist das Überraschende – in der Handschrift nicht etwa säuberlich hintereinander oder etwa als Vor- oder Nachspann zum Haupttext der Psalterbearbeitung, und – wohl mit Ausnahme der ‚Geistlichen Ratschläge – auch nicht als Nachträge auf frei gebliebenen Seiten. Nein, all dies bildet in kodikologisch planmäßiger Verschränkung und Verzahnung untereinander und mit dem Psalter ein Textensemble sui generis. In welcher Weise, das lässt sich im Einzelnen durch eine kodikologische Analyse der Handschrift weitgehend rekonstruieren, wie ich es an anderer Stelle getan habe. Die Deutung dieses gewiss nicht zufälligen Befundes auf den Gebrauchszweck der Handschrift hin stellt ein bislang ungelöstes Problem dar, vielleicht auch ein unlösbares.

Seiten 105 - 121

DOI: https://doi.org/10.37307/j.1868-7806.2011.01.06
Lizenz: ESV-Lizenz
ISSN: 1868-7806
Ausgabe / Jahr: 1 / 2011
Veröffentlicht: 2011-05-20
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Dokument Evelyn Scherabon Firchow (Hg.) unter Mitarbeit von Richard Louis Hotchkiss: Der Codex Vindobenensis 2681 aus dem bayerischen Kloster Wessobrunn um 1100.