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Das genetische Opfer. Biologie, Theologie und Ästhetik in Storms „Carsten Curator“

Ziel dieses Aufsatzes ist es zu zeigen, dass Storm in seiner Novelle „Carsten Curator“ die zu seiner Zeit aktuellen Konzepte von Heredität, Genetik und Evolution exemplarisch durchspielt und poetologisch gegenliest. Vorderhand gibt die Novelle Hinweise, dass die Familie Carstens einem ‚progrès d’un mal‘ im Sinne Morels unterworfen ist und mithin eine Verschlechterung der Erbeigenschaften bis zum Aussterben der Familie zu gewärtigen hat. Wenn sich die Familie durch den letzten Erbfolger, Heinrich d. J., dennoch von dieser vorhergesagten Entwicklung befreit, dann könnte dies der sexuellen Attraktion seines Vaters im Sinne von Charles Darwins Beauty-Theorie geschuldet sein. Gegen diese naturalismusverdächtigen handlungsführenden Theoreme präsentiert die Erzählung ein Opfer von Seiten Annas, die ihre guten Erbeigenschaften selbstlos zur Rettung der Familie einbringt. Eine solch idealistische Geste wird durch einen unübersehbaren Rekurs auf Hartmanns von Aue „Armen Heinrich“ gestützt – und durch die minutiöse Exemplifizierung eines Erbfolge- Gesetzes, bei dem vorgesehen ist, dass sich, sozusagen als Idealismus in der Determination, die guten Erbeigenschaften durchsetzen. Hinter dem poetologischen Konzept eines ‚Ideal- Realismus‘ steht also ein Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen des im ausgehenden 19. Jahrhundert noch nicht gefestigten Wissens um Vererbung.

This article aims to show it that in his novella “Carsten Curator” Storm uses the concepts of heredity, genetics and evolution, which were topical at the time, for literary purposes. Initially the novella hints that Carsten's family is subject to a ‘progrès d’un mal’ in Morel’s sense and is consequently confronted with a deterioration of its hereditary characteristics or even the end of the family line. If the family avoids this predicted development due to the qualities of the last descendant, Heinrich the younger, this could be attributed to the sexual attraction of his father in the sense of Charles Darwin’s beauty theory. The theories which drive the plot are reminiscent of naturalism, but they are counterbalanced in the story by a sacrifice on the part of Anna, who unselfishly comes to the rescue of the family with her good hereditary characteristics. Such an idealistic gesture is supported by a clear reference to Hartmann von Aue’s “Armer Heinrich”, and by a detailed exemplification of a law of succession in which it is intended that the good hereditary characteristics prevail – showing that there is idealism in the determination, as it were. Behind the poetological concept of an ‘ideal realism’ the author thus plays with the possibilities and boundaries of the knowledge of heredity, which was still sketchy at the end of the 19th century.

Seiten 201 - 224

DOI: https://doi.org/10.37307/j.1868-7806.2010.02.05
Lizenz: ESV-Lizenz
ISSN: 1868-7806
Ausgabe / Jahr: 2 / 2010
Veröffentlicht: 2010-11-30
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